Raum ästhetischer Paradoxa 7: Raum ästhetischer Theorie
© Claude Lebus, Greifswald – Germany
(1998)
Grau,
teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner
Baum. (GOETHE, Faust, V. 2038f.)
Raum
= Platz, Ort, Feld. Dimension der Außenwelt + sinnliche Erscheinungsform
deren Wahrnehmung
ästhetisch = die Gestaltprägnanz aller Wirklichkeit und deren
Wahrnehmung betreffend, sinnlich erlebbar + bewertbar + gestaltbar
Paradoxie = Widerspruch in sich, läuft dem Erwarteten
zuwider; Einheit von Unvereinbarem
Ästhetische U n s i c h e r h e i t? [Theoretischer
Exkurs: Lesezeit: 5:55 min bei mittlerem europäischem
Lesestil. Der
Text enthält 99 Zeilen, 888 Wörter, Größe: 13
KB, Neuheitswert: x3] |
Es gibt also gute Gründe, einen Ästhetikansatz
zu favorisieren, der die Widersprüche ästhetischen Verhaltens, die
einhergehenden Unsicherheiten, Begierden und Destruktionen ernst nimmt - und
auch die gegenständlichen Expansion des Schönen, einschließlich der ihr
nachfolgenden Vermüllung und Vergiftung beachtet.
Menschliches Verhalten ist ästhetisches Verhalten, beruht
auf sinnlicher Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit. Ästhetisches Verhalten
richtet sich primär auf vielsinnig wahrnehmbare Gestaltqualitäten unserer
natürlichen und produzierten Umwelt mit ihrer besonderen Reiz- und
Signalwirkung. Es bewegt sich ambivalent zwischen geistiger Reflexion und
praktischen Begierden und ist von vornherein konstruktiv und destruktiv, ist
also keineswegs bloß subjektiv reflektierende Urteilskraft. Die
elementar-vitalen, sexuellen und emotional affektiven Bedürfnisse und Gefühle,
die Lust an materialen, optischen und anderen Reizen, der animalische Genuss
körperlicher Empfindungen sind darin untrennbar integriert. Auch Verbrauch und
Verzehr sind völlig normale Prozesse unserer Lebenssicherung.
Verhalten wird durch sinnliche Erfahrung geleitet, die
ganzheitlich Verhaltenssicherheit stiftet. Bei jeglicher
Tätigkeit korrespondieren sichere Erfahrung und unsicheres Tasten. Es leistet
lebenssichernde Orientierungshilfe auch in ungewohnten, neuartigen Situationen.
Zielstrebige, auf bestimmte (Trieb)Ziele ausgerichtete Reizsuche,
die allerdings mit etlichen Anstrengungen verbunden ist, erklärt uns die
Verhaltensbiologie als Appetenzverhalten. Während
die Reizzuwendung bei Tieren mit der Triebbefriedigung ihren Abschluss findet,
kann der Mensch ohne große Anstrengung zur Lust kommen. Wer aber schnell und
bequem seine Wünsche erfüllen kann, hält triebbedingt nach immer höheren Reizen
Ausschau (Gesetz der doppelten Quantifizierung: Handlungsanreiz besteht bei
hoher innerer Triebstärke oder hohem Außenreiz). Das führt erstens zu höheren
Reizansprüchen, zweitens erhöhtem Einsatz an fremden Energien und drittens zu
Langeweile, Sucht oder Aggressionen.
Über Jahrhunderte gestreckt, eskalierte dieser Prozess am Ende des
20.Jahrhunderts in bedrohlicher Weise. Das Verhältnis von innerer und äußerer
Natur geriet aus den Fugen. Das offene Maß des Schönen und die Widersprüche
ästhetischen Verhaltens tragen wesentliche Mitschuld an der Umweltkrise,
entfalten sich aber in einem widernatürlichen wirtschaftspolitischen Rahmen mit
kurzsichtigen Leitziffern wie Umsatz und Rendite. Die subjektiven
Entsprechungen lauten Konsum, Erleben, FUN FOR EVER...
Nun sprechen Philosophen seit den 80er Jahren des 20.Jahrhunderts
zu recht von der „neuen Unübersichtlichkeit“, der Schwierigkeit, die
Wirklichkeit rational zu erfassen und angemessen zu beschreiben. Diese
Erkenntnisunsicherheit rührt nicht zuletzt von einer sich verbreitenden „ästhetischen
Unsicherheit“.
Erstens zählt vornehmlich die praktisch-gegenständliche Ausdehnung
materiellen Reichtums, der endlose Ausstoß an (un)nützen
Dingen. Im Alltag werden Waren, Zeichen, Kulturwerte, Normen, Lebensstile
unüberschaubar. Zweitens erfahren wir die Welt durch TV aus zweiter Hand,
simulieren Computer Wirklichkeit, suggeriert Werbung eine heile Umwelt.
Drittens versagen die menschlichen Sinne angesichts der Umweltvergiftungen und
verführerischen Konsums. Vieles, gerade an ökologischen Bedrohungen, entzieht
sich (noch) unseren Wahrnehmungen. Viertens leben wir in einer Zeit zunehmender
ästhetischer Unsicherheit auch deshalb, weil wir um die (Selbst)Täuschungen und
Ohnmacht unserer unmittelbaren Sinnesleistungen wissen.
Als Gegenreaktion werden auch kulturelle Autonomie und Pluralität
gefährdet, oder anders gesprochen das demokratische Gemeinwesen. Die beklagte
Unübersichtlichkeit, Ratlosigkeit und soziale Verunsicherung unserer
„Risikogesellschaft“ wird ja vielfach erlebt, unmittelbar erfahren. Das
überfordert vielfach Sinne und Nachsinnen. Ideale und Zielvorstellungen
scheinen fragwürdig, wir agieren maßlos und fragen nicht nach den Grenzen
unserer Natureingriffe.
An der Oberfläche wirkt die um sich greifende ästhetische
Destruktion wohlgefällig, vollzieht sich unter dem Deckmantel schönen Scheins
mit vielfältigen Verführungen. Wir werden gekitzelt, animiert, systematisch
verdummt. Allseitiges Styling der gigantischen Produktpalette führt letzten Endes
dazu, dass im aufgereihten Nebeneinander des Überflusses eine neuerliche
Uniformität zutage tritt. Die Gestaltung wird nebensächlich, das Design egal,
wir nehmen die Fülle gebrauchsfähiger Gegenstände oder geistiger Angebote wahr.
In jedem Falle führt uns die Ästhetisierung auf die (stofflich) gegenständliche
Dimension zurück. Das Bombardement mit schönen Dingen ist schließlich kein
imaginärer, sondern ein äußerst realer Akt.
Normaler Verbrauch steigert sich in maßlose Ressourcenvernichtung
(z.B. immer größere Autos, immer sicherere Autos, immer schnellere Autos),
führt also zum Verbrauch fremder Energien und wachsender Umweltzerstörung. Die
Steigerungsstufen lauten demnach: mehr Ästhetisierung (Verschönerung) = mehr Anästhetisierung (Betäubung) = mehr Destruktion
(Zerstörung) durch Ästhetik. Unsere ästhetische Unsicherheit nimmt weiter zu.
So real diese Vorgänge sind, so große Schwierigkeiten haben wir
mit ihrer Wahrnehmung. Zunächst ist also danach zu fragen, wer unsere
ökologisch-ästhetische Sensibilität zu befördern vermag und zu einer
umweltverträglichen Allianz auffordern kann?
Wer oder was vermag unsere Wahrnehmungsdefizite zu korrigieren und
die Paradoxie unseres
ästhetischen Verhaltens, dass nämlich unser unersättliches Genussstreben
(unsere innere "Natur") unaufhörlich und irreparabel unsere Umwelt
(unsere "äußere" Natur), eben unsere Mitwelt zerstört, anschaulich zu gestalten? Wer oder was vermag,
unsere Ratio über Emotionen zu erreichen?
Nur wenn wir ganz betroffen sind, Fühlen, Denken und Handeln eng
verbunden sind, können wir den Zusammenhang beider Naturen entdecken und
gerecht werden.
Autonome Ästhetik verteidigt die subjektive Reflexion als
objektdistanzierten Bezugspunkt, ICH bin Mittelpunkt. Es bleibt außer acht, dass die bloß vorgestellte, subjektiv
ästhetische Zweckmäßigkeit der Natur nur innerhalb eines teleologischen
Naturzwecks gilt. Dieser objektiv unüberschaubare transzendente Naturzweck
relativiert subjektive Interpretationen und anmaßende Naturbeherrschung. Der
Mensch ist weder ohnmächtig noch allmächtig. Manche fordern Demut vor der
Schöpfung. Bescheidenheit ist angesagt, auch formuliert als Prinzip
"Behutsamkeit", als gegenständliche Entlastung (siehe sinkende
Ressourcen). Behutsamkeit bedeutet etwas anderes als Verzicht, es geht um
bewusste Rücksicht und mehr Genuss. Gleichmacherei kann ausgeschlossen werden,
wenn der "Marktpreis die ökologische Wahrheit sagt." Dann nämlich
bleibt mir weiterhin die Entscheidungsfreiheit meine Bedürfnisse zu wichten. Was will ich mir leisten, was geht nicht.
Vielleicht finden wir zukünftig Genuss, in dem wir uns von
Gegenständen entlasten, als selbstbestimmte Individuen in sozialer Kooperation
und humaner Konkurrenz weniger, dafür aber umweltfreundlicher produzieren? Die
Schritte heißen also: Wahrnehmung => Erkenntnis => geistige Entgiftung +
stoffliche Entlastung...
Welche Zukunftskonzepte und -strategien sind tragfähig und welche
Handlungsrahmen vonnöten für das viel beschworene „Jahrhundert der Umwelt“?
Mehr oder besser, Quantität oder Qualität - das ist hier die
Frage. Zeitgemäße Ästhetik sollte also nach den gesellschaftlichen wie
individuellen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Handlungskompetenzen im
Umgang mit den offenen Maßen des „Schönen“ fragen.
Welches Maß aber ist das richtige (für mich und meine Umwelt)? Das
ist zweifellos die wichtigste Lebensfrage und die schwierigste. Dass hier
über Grundsicherungen, Verteilungsgerechtigkeit, aktive Teilhabe und
Verfügbarkeit an Mitteln gestritten werden kann, versteht sich von selbst,
ist aber eine andere Frage...
Dr. Lebus, Greifswald
Bitte hier
nicht klicken ! ==> Raum 1 |
The end!
Adieu! |
homepage von Claude |