philosophische alltagsstreusel © Dr. Lebus, Greifswald - Germany
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willkommen auf
homepage-seite: philosophische
alltagsstreusel
philosophische alltagsstreusel 1
im dezember 2006 zum
thema: DESCARTES, 1596-1650
ich denke,
also bin ich…
kontrapunkt: ich lebe, also bin ich?
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in der reihe: philosophische
alltagsstreusel möchte ich mich in der 1. folge mit DESCARTES
auseinandersetzen.
wer war DESCARTES?
ein französischer aufklärer
(1596-1650), der das bisherige wissen auf den prüfstand stellte, eine
gottgegebene ordnung nur in der natur anerkannte, also auch an der staatsmacht
und den mächtigen zweifelte. ein jugendlicher querdenker, der alles anders
machen wollte, autoritäten in frage stellte… kommt uns doch bekannt vor, oder?
die zeiten in Frankreich und Europa waren eher ungesund: da war
der dreißigjährige krieg (1618-48) und die katholische kirche in frankreich
brachte leute, die außerhalb der bibel und kirche philosophierten schnell an
den galgen oder unter die guillotine, was auch nicht besser war.
wenn es heißt, DESCARTES misstraute allem, nur dem denkenden
zweifel nicht, ist das die halbe wahrheit. gott wurde von ihm (als schöpfer)
nicht in frage gestellt, dennoch musste er zeitweise ins exil.
in den wissenschaften des 17. und 18. jahrhunderts wurden u. a.
folgende fragen diskutiert: wie ist erkenntnis möglich, welche rolle spielen
die sinne, welche die vernunft und ob es gott gibt oder nicht.
der ausgangspunkt von DESCARTES war: nur das denken, der verstand
(vernunft) könne wesentliches erkennen, während uns die sinne täuschen. er
behauptete, wir leben in einer dualen (zweigeteilten) welt und trennte
- den menschen in leib und
seele und
- den kosmos in eine
körperliche/qualitative welt, die sinnlich erfahrbar und deshalb nichtig sei
und in eine räumliche/quantitative, weil mathematisch erfassbar
wesentlich.
er verachtete die sinneserfahrung. betrunken, benebelt, benommen
fallen wir auf alle möglichen tricks herein. wir kennen das: ein aperitif und
das tief verfliegt. scheinbar, hick…
die winkelsumme in einem dreieck aber bleibt immer 180 grad.
ätsch! sie ist messbar, errechenbar, real, wahr. sie ist eben rational (vernünftig, aus der vernunft
stammend bzw. herzuleiten). davon ausgehend wollte DESCARTES ein rein
rationales herangehen an die wirklichkeit begründen.
dabei unterschätzte er die induktion
als wissenschaftliche verallgemeinerung, die vom einzelnen sinneseindruck,
einer konkreten erfahrung, zur allgemeinen aussage schreitet. dabei ist es vor
allem die induktion, welche uns zu neuen erkenntnissen führt. eine hypothese
(vorläufige these) kann sich allerdings als falsch oder als vorurteil erweisen:
□ beispiele: X log
gestern der apfel fällt nach unten
heute
hat mich X schon zweimal belogen nach
oben ist mir noch nichts gefallen
also
wird X wohl immer lügen also werden wohl alle gegenstände
zu boden fallen
hier
ist vorsicht geboten 1655 formulierte NEWTON das
gravitationsgesetz
kein problem: falsche annahmen und überholte theorien können ja
korrigiert werden.
DESCARTES und die rationalisten favorisierten hingegen die
deduktion. aber was nützt ein deduktiver schluss, vom allgemeinen zum
besonderen, vom gesetz bzw. der regel zum einzelfall, der nur bekanntes wissen
produziert? und wie komme ich zum allgemeinen gesetz bzw. prinzip, wo findet
sich das.
für DESCARTES eine sache des rationalen vorgehens. übrigens begründete
er die analytische geometrie, was verständlich ist, denn diese kommt weitgehend
ohne anschaulichkeit aus und löste geometrische probleme rein rechnerisch. als
quelle der vernunft machte unser rechenmeister noch etwas anderes aus…
DESCARTES
glaubte zudem an eine angeborene seele – wie bspw. SOKRATES und PLATON – die
eine widererinnerung (anamnese) an unsterbliche ideen und wissen absolut
ermöglicht. dieses urei, sorry diese urideen (nach PLATON) sind der eigentliche
garant für universelle gesetze. die rationalisten wollten damit ausdrücken,
dass die welt erkennbar ist.
also: DESCARTES stärkte die kraft des eigenen denkens. er nährte
die kritischen zweifel gegen das bestehende und gegen das, was scheinbar mit
den bloßen händen zu greifen oder augenscheinlich ist.
zu recht, denn mancher lässt sich leicht täuschen. mit fotos, „da,
seht ihr…“, wurden schon kriege begonnen. vergessen?
□
so meldete der SPIEGEL
ONLINE - 09. September 2005:
Washington - er fühle sich "furchtbar", dass er damals angebliche
beweise für massenvernichtungswaffen vorlegte habe, die sich als falsch
erwiesen haben, sagte POWELL dem sender ABC News in einem interview, das heute
ausgestrahlt werden soll. POWELL hatte unter anderem satelliten-fotos von
angeblichen lastwagen mit mobilen biowaffen-labors vorgeführt…“
DESCARTES zweifel an dem sinnlichen schein sind angebracht, können
aber sein berühmter ausspruch und seine schlussfolgerungen grundlage einer
rationalen weltsicht sein? ist DESCARTES heute überhaupt bekannt?
aktuelle DESCARTES-varianten von „ich denke, also bin ich…“
□ in einem seiner stücke über das denken mogelt Dieter NUHR
seinem publikum u. a. PLATON und DESCARTES unter (1). das mündet dann in
die pointe: früher hieß es, ich denke,
also bin ich. heute weiß ich, komm, es geht auch so…
mein tipp: einfach mal reinhören.
□ wer sich dafür nicht erwärmen kann, der wird in der
wirklichen welt, soll heißen dem internet, wenigsten einem der folgenden
sprüche begegnet sein, den verschiedensten variationen des DESCARTschen
denkspruchs:
è auf wahrnehmungen
bezogen: ich höre, fühle/leide/spüre,
lese/sehe, rieche, schmecke, … also bin ich.
è auf verständigung
bezogen: ich blogge, chatte, doziere, erinnere,
hacke, google, kommuniziere, kritzle, publiziere, rede, schreibe, spraye,
surfe, telefoniere, …also bin ich.
è auf weitere tätigkeiten
bezogen: ich arbeite, blute, boxe,
ersteigere, fahre, hasse, lerne, leiste, liebe, kaufe, messe, reise, revoltiere,
roste, saufe, spiele, spiegele, studiere, täusche, träume, trinke, tue,
verbrauche, wrappe, … also bin ich.
□ diese varianten habe ich am 10. dezember 2006
gegoogelt und notiert.
□ ein beitrag über Sigmund FREUD war unlängst überschrieben:
ich träume, also bin ich.
□ ein arte-beitrag (2)
hieß: google zeigt mich, also bin ich.
wer will, kann entsprechende seiten aufsuchen und die
argumentationen prüfen.
erste zusammenfassung
·
alle kritischen kommentare laufen mehr oder weniger darauf hinaus,
dass
- bei „der jugend“ oder „den
internetbenutzern“ wirkliche lebensbezüge fehlen
- „sie“ nur das leben in der
virtuellen realität beherrschen
- abhängig von handy, pc,
internet und communities sind
- „die selbstdarstellung im
netz … zur existenziellen lebensgrundlage“ wird (3)
·
die „insiderdarstellungen“ sind überwiegend erdverbunden, will
sagen recht lebensbejahend formuliert und nicht internetversessen,
netzabhängig, websüchtig! das internet ist und bleibt für viele ein produktions- bzw. kommunikationsmittel, keineswegs selbstzweck, wie einige gelegentlich
unterstellen.
sichtbar wird, dass neben diesen beiden positionen platz für
andere interpretationen ist, auch für zwischentöne.
was ist noch alles an variablen von „ich denke, also bin ich“
möglich, ohne an das internet
gebunden zu sein?
è z. b.: ich ahne, bewirte, checke, durste, engagiere, f…., freue, gehe, habe, interessiere, jazze, jobbe, jogge, kündige, lache, meine, niese, organisiere, plane, qualme, ruhe, schwärme,
schweige, spare, teste, umwerbe, verliere, weine… also
bin ich.
spätestens hier wird klar: nicht die eine sache ist die wichtigste, sondern das ich etwas „mache“.
ich lebe, also bin ich. und leben definiert jede(r) anders…
welche thesen leite ich daraus ab?
1. philosophische denkfiguren werden vom alltagsdenken aufgenommen.
das ist nicht neu, logo. wie bei vielen anderen sachverhalten geht
der historische kontext verloren, wird unwichtig. bestimmte redewendungen
werden aber alltagsbestandteil und allgemeingut, wie bei „sein oder nichtsein…“
der spielerische umgang mit dem DESCARTschen ausspruch ist so eine anpassung an
die bedürfnisse unserer zeit.
2. das autonome subjekt [die selbstbewusste,
eigenständig handelnde person] kann sich nur in abgrenzung oder in
gemeinsamkeit gegen/mit anderen definieren.
eine definition klärt immer das wesen und den unterschied einer
sache zu anderen. jedes individuum weiß einerseits um seine einzigartigkeit,
besonderheiten, macken,… andererseits weiß jede(r) um ihre/seine abhängigkeit
von anderen: den eltern, der familie, mitmenschen, gruppe, nation, kulturkreis.
so fallen auch die ansichten von dem, was ich bin, was mir wichtig ist, verschieden
aus. da die gemeinsamkeit selbstverständlich ist, werden die unterschiede,
besonderheiten und vorlieben interessant.
der eine betont das denken. eine werdende mutter ev. – wie
mehrfach im web zu finden - ihre schwangerschaft: „ich bin schwanger, also bin
ich (also lebe ich).“ sie akzentuiert ihre besondere situation. nach spätestens
9 monaten wird frau sich anders definieren.
ein begeisterter angler, der schreibt: „ich angle, also bin ich“,
will ev. den stellenwert seines hobbys verdeutlichen usw. usf.
3. die (französische) revolution:
im sinne von aufklärung + streben nach freiheit, gleichheit, brüderlichkeit
geht weiter.
bei allem spiel und ironie, wenn ich versuche eines meiner „wesensmerkmale“ zu definieren
(egal ob chatten, schreiben, spielen, studieren, schwanger sein) ist das ein
ausdruck eigener mündigkeit, meines selbst-bewusstseins. es ist zugleich ein
freier, auch befreiender akt. ich will mich selbst erkennen.
ein akt von gleichheit und brüderlichkeit ist es in dem sinne,
dass ich anderen nicht unterlegen sein will, sondern ebenbürtig. und ich bewege
mich in einem sozialen raum, d. h. andere hören zu, lesen mit. es ist also
auch ein selbst-bekenntnis, das auf andere zugeht und – bei allem spaß – ernst
genommen zu werden wünscht.
4.
zwei gegenpositionen haben auf den ersten blick gewonnen:
a) dass nur meine sinnliche
erfahrung zählt und
b) rationales denken,
wissen, handeln chancenlos ist.
es wird eben nicht in erster linie das denken genannt, das mich
ausmacht, sondern häufig unsere wahrnehmungen.
das umdrehen von „ich denke…“ bezeugt zudem oft eine distanz zu
philosophischen bzw. politischen denken, welches unverständlich,
schwergewichtig, aufgeblasen daherkommt.
es mag auch eine gewisse verneinung signalisieren, resignation und
gleichgültigkeit an den „großen menschheitsfragen“. doch welches sind die
„großen“ herausforderungen? kümmert sich die politische klasse um die
zukunftswichtigen fragen oder empfindet nicht eine mehrheit derzeitiges
politisches handeln als flickenschusterei?
was etwa die erderwärmung betrifft, so scheint
verantwortungsbewusstes politisches handeln weltweit unmöglich. ja, es drängt
sich der eindruck auf, überall gebe es nur ein „weiter so“, entgegen aller
vernunft.
5.
denken und handeln erhalten
auf den zweiten blick neue chancen.
es heißt schließlich nicht nur: „ich fahre, kaufe, saufe… also bin
ich.“ menschen definieren sich meist über tätigkeiten.
der selbst-ausdruck im web wird nicht selten als
selbst-entblößung, seelen-striptease etc. bezeichnet. dagegen möchte ich drei
argumente anführen:
- erstens sind philosophische schriften seit anbeginn auch immer
selbstausdruck und private bekenntnisse von früheren politikern,
schriftstellern, wissenschaftlern nicht ungewöhnlich, blieben aber einer elite
vorbehalten. wenn das jetzt – durch das internet massenhaft und für jeden
einsehbar geschieht – ist das doch nicht gleich negativ.
- zweitens sind die persönlichen stellungnahmen im internet ein
resultat produktiver tätigkeit, ergebnis des denkens, selbst wenn sie sich gegen
das denken aussprechen.
- und drittens sind die „…, also bin ich“-sprüche und kommentare
spiegelbild eines sehr rationalen herangehens an wirklichkeit. man handelt als
konkrete person mit konkreten wünschen und absichten und zeigt ein stück
weltoffenheit.
man greift ein in den weltenlauf, selbst wenn das statement „ich
saufe, also bin ich“ als wert
zweifelhaft erscheint, logisch ist es
unzweifelhaft, d. h. wahr. inwieweit dies unvernünftig ist, bleibe dahingestellt.
viele politischen reden und reformen zeugen nun auch nicht gerade
von vernunft, wenn man das rentenalter hochsetzt, obwohl heute nur 50 prozent
der leute über 50 beschäftigt sind, der arbeitslosenmarkt keine entlastung
verheißt und arbeitsverhältnisse, mit deren einkommen sich auskommen lässt,
stark abnehmen.
6. DESCARTES ist tot, es lebe DESCARTES?
seit Immanuel KANT wissen wir, dass anschauung und denken, bild
und begriff zusammengehören, erkenntnis die sinnliche wahrnehmung einschließt.
die auch heute von einigen philosophen spürbare geringschätzung
und abwertung anderer lebenstätigkeiten wird damit nicht aufgehoben.
der philosoph Franz WUKETITS (geb. 1950) hebt hervor, dass das
denken ein produkt der biologischen evolution ist und abhängig von unserem
körperlichen zustand. nach den aperitif klappt es mit dem denken nicht mehr
ganz so. es muss also heißen: ich bin, also denke ich (sum ergo cogito).
vor diesem hintergrund ist es nur allzu richtig, wenn das
individuelle SEIN mehr gewicht erhält. das sich lebensziele und –ansichten
ausdifferenzieren, ist auch ergebnis von aufgeklärter demokratie.
natürlich ist und bleibt das denken wichtig. mensch-sein bedeutet
vor allem bewusst-sein. oder wie ich gerne formuliere. die welt findet im kopf
statt. doch sinne und gefühl fließen in das denken ein.
körper und geist sind also nicht getrennt, sie bilden eine
einheit. das allerdings mit vielen widersprüchen und individuell ausgeprägt.
eines ist uns dabei gemeinsam: wir leben und wollen leben:
ich lebe, also bin ich. dazu fand ich am 12. dezember 2006 bei google
224 seiten. mit anderen worten: die zahllosen variationen von „ich denke, also
bin ich“ zeugen von bewusster selbst-behauptung.
frei nach EPIKUR (341-270 v. Chr.): „das größte aller übel, der tod, hat keine bedeutung für uns. solange
wir da sind, ist der tod nicht, ist aber der tod da, dann sind wir nicht mehr.“
Klaus STAECK, präsident der akademie der künste, hat 1984 eine
postkarte herausgegeben, auf der eine trauergemeinde einen sarg herablässt.
darüber steht:
der boden stirbt, das wasser
stirbt, die luft stirbt, der wald stirbt, die tiere sterben. HURRA WIR LEBEN.
ist das ein anderes thema?
anmerkungen und quellenverzeichnis
(1) Dieter NUHR: dieter nuhr, cd, wort art u. a.: 2000, stück
nr. 28
(2) arte am 12. dezember 2006, 20.45 uhr
(3) text zum programmhinweis: google
zeigt mich, also bin ich. in: www.arte.tv/de am 12. 12. 2006
philosophische alltagsstreusel
© Dr. Lebus, Greifswald – Germany 12/2006
philosophische
alltagsstreusel 0
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