philosophische
alltagsstreusel © Dr. Lebus,
Greifswald -
Germany
aktualisiert 8. 2. 2007 (neuzugang im februar 2007, 1024 x 768)
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thema: ästhetik (text von 1998) ästhetische
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in der reihe: philosophische
alltagsstreusel möchte ich mich in der 2. folge mit der frage
auseinandersetzen, inwieweit die zunehmende unsicherheit bzw. orientierungslosigkeit
ein ästhetisches phänomen darstellt.
Es gibt gute
Gründe, einen Ästhetikansatz zu favorisieren, der die Widersprüche ästhetischen
Verhaltens, die einhergehenden Unsicherheiten, Begierden und Destruktionen
ernst nimmt - und auch die gegenständlichen Expansion des Schönen,
einschließlich der ihr nachfolgenden Vermüllung und Vergiftung beachtet.
Menschliches
Verhalten ist ästhetisches
Verhalten, beruht auf sinnlicher Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit.
Ästhetisches Verhalten richtet sich primär auf vielsinnig wahrnehmbare
Gestaltqualitäten unserer natürlichen und produzierten Umwelt mit ihrer
besonderen Reiz- und Signalwirkung. Es bewegt sich ambivalent zwischen
geistiger Reflexion und praktischen Begierden und ist von vornherein konstruktiv
und destruktiv, ist also keineswegs bloß subjektiv reflektierende Urteilskraft.
Die elementar-vitalen, sexuellen und emotional affektiven Bedürfnisse und
Gefühle, die Lust an materialen, optischen und anderen Reizen, der animalische
Genuss körperlicher Empfindungen sind darin untrennbar integriert. Auch
Verbrauch und Verzehr sind völlig normale Prozesse unserer Lebenssicherung.
Verhalten wird
durch sinnliche Erfahrung geleitet, die ganzheitlich Verhaltenssicherheit
stiftet. Bei
jeglicher Tätigkeit korrespondieren sichere Erfahrung und unsicheres Tasten. Es
leistet lebenssichernde Orientierungshilfe auch in ungewohnten, neuartigen
Situationen.
Zielstrebige,
auf bestimmte (Trieb)Ziele ausgerichtete Reizsuche, die allerdings mit etlichen
Anstrengungen verbunden ist, erklärt uns die Verhaltensbiologie als Appetenzverhalten. Während die Reizzuwendung
bei Tieren mit der Triebbefriedigung ihren Abschluss findet, kann der Mensch
ohne große Anstrengung zur Lust kommen. Wer aber schnell und bequem seine Wünsche
erfüllen kann, hält triebbedingt nach immer höheren Reizen Ausschau (Gesetz der
doppelten Quantifizierung: Handlungsanreiz besteht bei hoher innerer
Triebstärke oder hohem Außenreiz). Das führt erstens zu höheren Reizansprüchen,
zweitens erhöhtem Einsatz an fremden Energien und drittens zu Langeweile, Sucht
oder Aggressionen.
Über
Jahrhunderte gestreckt, eskalierte dieser Prozess am Ende des 20.Jahrhunderts
in bedrohlicher Weise. Das Verhältnis von innerer und äußerer Natur geriet aus
den Fugen. Das offene Maß des Schönen und die Widersprüche ästhetischen
Verhaltens tragen wesentliche Mitschuld an der Umweltkrise, entfalten sich aber
in einem widernatürlichen wirtschaftspolitischen Rahmen mit kurzsichtigen
Leitziffern wie Umsatz und Rendite. Die subjektiven Entsprechungen lauten
Konsum, Erleben, FUN FOR EVER...
Nun sprechen
Philosophen seit den 80er Jahren des 20.Jahrhunderts zu recht von der „neuen
Unübersichtlichkeit“, der Schwierigkeit, die Wirklichkeit rational zu erfassen
und angemessen zu beschreiben. Diese Erkenntnisunsicherheit rührt nicht zuletzt
von einer sich verbreitenden „ästhetischen Unsicherheit“.
Erstens zählt
vornehmlich die praktisch-gegenständliche Ausdehnung materiellen Reichtums, der
endlose Ausstoß an (un)nützen Dingen. Im Alltag werden Waren, Zeichen,
Kulturwerte, Normen, Lebensstile unüberschaubar. Zweitens erfahren wir die Welt
durch TV aus zweiter Hand, simulieren Computer Wirklichkeit, suggeriert Werbung
eine heile Umwelt. Drittens versagen die menschlichen Sinne angesichts der
Umweltvergiftungen und verführerischen Konsums. Vieles, gerade an ökologischen
Bedrohungen, entzieht sich (noch) unseren Wahrnehmungen. Viertens leben wir in
einer Zeit zunehmender ästhetischer Unsicherheit auch deshalb, weil wir um die
(Selbst)Täuschungen und Ohnmacht unserer unmittelbaren Sinnesleistungen wissen.
Als
Gegenreaktion werden auch kulturelle Autonomie und Pluralität gefährdet, oder
anders gesprochen das demokratische Gemeinwesen. Die beklagte
Unübersichtlichkeit, Ratlosigkeit und soziale Verunsicherung unserer
„Risikogesellschaft“ wird ja vielfach erlebt, unmittelbar erfahren. Das
überfordert vielfach Sinne und Nachsinnen. Ideale und Zielvorstellungen
scheinen fragwürdig, wir agieren maßlos und fragen nicht nach den Grenzen
unserer Natureingriffe.
An der
Oberfläche wirkt die um sich greifende ästhetische Destruktion wohlgefällig, vollzieht sich unter dem Deckmantel schönen Scheins
mit vielfältigen Verführungen. Wir werden gekitzelt, animiert, systematisch
verdummt. Allseitiges Styling der gigantischen Produktpalette führt letzten
Endes dazu, dass im aufgereihten Nebeneinander des Überflusses eine neuerliche
Uniformität zutage tritt. Die Gestaltung wird nebensächlich, das Design egal,
wir nehmen die Fülle gebrauchsfähiger Gegenstände oder geistiger Angebote wahr.
In jedem Falle führt uns die Ästhetisierung auf die (stofflich) gegenständliche
Dimension zurück. Das Bombardement mit schönen Dingen ist schließlich kein
imaginärer, sondern ein äußerst realer Akt.
Normaler
Verbrauch steigert sich in maßlose Ressourcenvernichtung (z.B. immer größere
Autos, immer sicherere Autos, immer schnellere Autos), führt also zum Verbrauch
fremder Energien und wachsender Umweltzerstörung. Die Steigerungsstufen lauten
demnach: mehr Ästhetisierung (Verschönerung) = mehr Anästhetisierung
(Betäubung) = mehr Destruktion (Zerstörung) durch Ästhetik. Unsere ästhetische
Unsicherheit nimmt weiter zu.
So real diese
Vorgänge sind, so große Schwierigkeiten haben wir mit ihrer Wahrnehmung.
Zunächst ist also danach zu fragen, wer unsere ökologisch-ästhetische
Sensibilität zu befördern vermag und zu einer umweltverträglichen Allianz
auffordern kann?
Wer oder was
vermag unsere Wahrnehmungsdefizite zu korrigieren und die Paradoxie unseres
ästhetischen Verhaltens, dass nämlich unser unersättliches Genussstreben
(unsere innere "Natur") unaufhörlich und irreparabel unsere Umwelt
(unsere "äußere" Natur), eben unsere Mitwelt zerstört, anschaulich zu gestalten?
Wer oder was vermag, unsere Ratio über Emotionen zu erreichen?
Nur wenn wir
ganz betroffen sind, Fühlen, Denken und Handeln eng verbunden sind, können wir
den Zusammenhang beider Naturen entdecken und gerecht werden.
Autonome
Ästhetik verteidigt die subjektive Reflexion als objektdistanzierten
Bezugspunkt, ICH bin Mittelpunkt. Es bleibt außer acht, dass die bloß
vorgestellte, subjektiv ästhetische Zweckmäßigkeit der Natur nur innerhalb
eines teleologischen Naturzwecks gilt. Dieser objektiv unüberschaubare
transzendente Naturzweck relativiert subjektive Interpretationen und anmaßende
Naturbeherrschung. Der Mensch ist weder ohnmächtig noch allmächtig. Manche
fordern Demut vor der Schöpfung. Bescheidenheit ist angesagt, auch formuliert
als Prinzip "Behutsamkeit", als gegenständliche Entlastung
(siehe sinkende Ressourcen). Behutsamkeit bedeutet etwas anderes als Verzicht,
es geht um bewusste Rücksicht und mehr Genuss. Gleichmacherei kann
ausgeschlossen werden, wenn der "Marktpreis die ökologische Wahrheit
sagt." Dann nämlich bleibt mir weiterhin die Entscheidungsfreiheit meine
Bedürfnisse zu wichten. Was will ich mir leisten, was geht nicht.
Vielleicht
finden wir zukünftig Genuss, in dem wir uns von Gegenständen entlasten, als
selbstbestimmte Individuen in sozialer Kooperation und humaner Konkurrenz
weniger, dafür aber umweltfreundlicher produzieren? Die Schritte heißen also:
Wahrnehmung => Erkenntnis => geistige Entgiftung + stoffliche
Entlastung...
Welche
Zukunftskonzepte und -strategien sind tragfähig und welche Handlungsrahmen
vonnöten für das viel beschworene „Jahrhundert der Umwelt“?
Mehr oder
besser, Quantität oder Qualität - das ist hier die Frage. Zeitgemäße Ästhetik
sollte also nach den gesellschaftlichen wie individuellen Wahrnehmungs-,
Verhaltens- und Handlungskompetenzen im Umgang mit den offenen Maßen des
„Schönen“ fragen.
Welches Maß
aber ist das richtige (für mich und meine Umwelt)? Das ist zweifellos die
wichtigste Lebensfrage und die schwierigste. Dass hier über Grundsicherungen, Verteilungsgerechtigkeit,
aktive Teilhabe und Verfügbarkeit an Mitteln gestritten werden kann,
versteht sich von selbst, ist aber eine andere Frage...
philosophische alltagsstreusel
© Dr. Lebus, Greifswald – Germany 2/2007
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