Nikolaustag - Beitrag zum 3. Schreibwettbewerb für Mecklenburg-Vorpommern 2004 -   © Claude Lebus,   Greifswald – Germany

 

 

 

 

Kurzgeschichte: Nikolaustag (2004)

[Nikolaustag. Veröffentlicht in: Reflexe. Heft für Literatur. urgent-Verlag Schwerin/Halle/Berlin:

5. Jahrgang 5. Heft 2004/05, S.64-74]

 

 

 

 

Eine Geschichte voller Hoffnungen, Träume, Wünsche. Eine Liebesgeschichte. Eine Geschichte von kalter Jahreszeit, eine Geschichte vom kalten Krieg, eine Ost-West-Geschichte. Eine Geschichte von versäumten und gelebten Möglichkeiten, eine Geschichte vom Ankommen, eine Adventsgeschichte, eine Alltagsgeschichte, eine vergangene Geschichte, eine Wendegeschichte, eine zukünftige Geschichte. Eine Geschichte eben…

 

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Das Leben ist das, was passiert,

während du damit beschäftigt bist,

Pläne für etwas ganz anderes zu machen.   J. L.

 

Die Lokomotive fuhr geradewegs auf ihn zu. Während sich ihre Größe mit jedem näherkommenden Meter verdoppelte, versank er langsam, doch nur zentimeterweise, im Boden. So unvermeidbar der Zusammenstoß schien, so plötzlich bog die Lok ab. Die letzten Waggons huschten an seinen Augen vorbei, ihre seitliche Beschriftung zerrann, ihm schwindelte. Fuhr dort die Reichsbahn Ost oder die Bundesbahn West? Die Deutsche Bahn AG wurde erst 1994 gebildet, das war vier Jahre später. Joachim ...

 

... setzte sich auf Annas dreibeinigen runden Klavierhocker am Fenster, holte tief Luft und blickte in die Ferne. Zehn Jahre seines Lebens verschwanden, sobald er sich seinen Erinnerungen näherte, ortlos im Nebel. Er rief alle persönlichen Ereignisse detailliert auf, wusste das und wann sie stattgefunden hatten, aber nicht mehr wo.

Auch jenes verlängerte Wochenende glich einem geografischen Rätsel, wenngleich er die verschiedenen Abläufe minutiös schildern konnte. Möglicherweise wohnte sie in Düsseldorf, eventuell auch in Dresden. Ein riesiger Bahnhof. Genau entsann er sich noch der Bahnhofsgegend, erneut verschwamm das Bild. Unsicherheit quälte ihn und der Gedanke, dass möglicherweise das Land nie geteilt war.

Keine Teilung, keine Grenze, keine Mauer. Aber dann gäbe es keine Vereinigung und wer weiß, was noch nicht alles. Schluss, aus, Punkt. Er fühlte sich entwurzelt und trieb als Unsteter zwischen allen Zeitenläuften. Vielleicht war all das belanglos? Ob Düsseldorf oder Dresden – egal. Die Rückblende kreiste um Sonnabend, ...

 

... den 6. Dezember 1980. Joachim und Anna blieben lange liegen. Er spielte in aller Frühe Nikolaus und klopfte an ihre goldene Pforte. „Erst heize dem Ofen ein, dann mir“, hauchte sie ihm schelmisch ins Ohr und verschwand vor ihm zur Morgentoilette ins Bad. Hinterher empfing Anna ihn zärtlich und ausdauernd, nichts störte, der Straßenlärm nahm ihnen die letzte Scham. Gefrühstückt wurde einfach, doch ausgiebig. Toaster, Kaffeemaschine und Radio vermischten sich zu einem gewohnten Wochenendklang, dirigiert von verliebten Stimmen und sorglosen Bewegungen.

Nach dem Frühstück huschte Anna lächelnd ins Bett zurück: „Kommst du, Joan?“, ihre einladende Geste blieb zunächst ohne Antwort.

Bedächtig suchte Joachim zwischen den Langspielplatten und fischte schließlich „Imagine“ heraus. „Wollen wir heute nur Beatles hören, Ann? Mit deinem Liebling John beginnen wir.“ Das war ...

 

Imagine there's no heaven / It's easy if you try / No hell below us  / Above us, only sky / Imagine all the people / Living for today ...

 

... zweifellos besser als Nachrichten, die sonst Achims Morgen einläuteten. Sein intensives Interesse für das Zeitgeschehen entschuldigte Anna als typisch männliche Marotte. Für sie bildete ihre Liebe die wichtigste Sache der Welt. Und ihre natürliche und unbefangene Art zu lieben veränderte auch ihn. Die Gemeinsamkeiten und Gespräche reichten indes weiter. Anna fotografierte leidenschaftlich, ja exzessiv, las viel über andere Kulturen und liebte ziemlich alles an Blues & Soul.

Er verschlang deutsche, englische und russische Gegenwartsliteratur und verfolgte die bildende Kunst. Auch hier pendelte er zwischen den Welten, las Bruno Apitz´ „Nackt unter Wölfen“, Alfred Anderschs „Winterspelt“ und Tschingis Aitmatows "Dshamilja", Ingeborg Bachmanns "Die gestundete Zeit", Saul Bellows „Mr. Sammlers Planet“ und Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita", Alejo Carpentiers Kurzprosa, Ernesto Che Guevaras „Episoden aus dem Revolutionskrieg“ und  Christa Wolfs "Der geteilte Himmel".

Er kannte bildende Kunst der Düsseldorfer Zero-Gruppe und der ZEN-Art, Kunstwerke von Tony Cragg und Christo, Georges Braque und Joseph Beuys, Hans Arp und Arman.

Die Kunst war sein Spielbein in der aufgeregten Zeit, das Standbein fand Joachim anderswo. Ein Leben ohne Anna war für ihn unvorstellbar. Beide waren sich Ruhepol und Lebenselexier, Mann und Frau eben.

 

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Ringsherum stand die Welt Kopf. Es waren jene 80er Jahre, da die politischen Mächte zwischen den Erdpolen zu verdampfen drohten. Miteinander, gegeneinander. Überleben ohne ...

 

Imagine there's no countries / It isn't hard to do / Nothing to kill or die for / No religion too / Imagine all the people / living life in peace ...

 

... Leben. Anna und Joachim hatten sich gesucht und gefunden, und jenes Wochenende war wunderschön.

Nun drehten sich seine Erinnerungen wie ein Karussell. Immer schneller. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte lautlos in die Tiefe. Die Arme hochgerissen rang er, den Mund geöffnet, um Luft. Er wollte schreien, aber kein Satz, kein Wort, keine Silbe war zu hören. Er sank ins Bodenlose.

 

Der Sturz begann im Mittelraum des obersten Stockwerks eines monumentalen Turms, der gleichsam in den Himmel reichte. War das der Turm von Babel? Die einzelnen Etagen ähnelten sich. In der jeweiligen Raummitte befand sich ein breites Doppelbett, darauf kniete Ann und reckte ihm die Arme entgegen, versuchte ihn zu fangen. Sie stand, lag, hockte neben, über, unter ihm, vergeblich bemüht, ihn zu halten. Ihr durchsichtiger Pyjama glich einem weißen Totenhemd, in das er sich krallte und es zerriss. Wieder und immer wieder sank er durch das Bett, die Dielung, die Decken. Er stürzte. Endlos wiederholte sich die Szenerie. Atemlos ruderte er aufwärts, vergebens. Die Talfahrt ohne Hindernisse in diesem Kilometerturm beschleunigte sich. Das Bett, Hände, Arme. Nackt und wild. Weiter, er fiel und fiel.

Plötzlich Musik, ein Knall und Johannes schlug senkrecht auf. Jetzt stand er ...

 

... inmitten eines leeren Raumes, der die Ausmaße einer quadratisch angelegten Kathedrale besaß. In die schmucklosen Seitenflächen waren gewaltige Flügeltore mit gotisch aufstrebenden Linien und Rosetten eingelassen. Sonnenstrahlen durchbrachen die Gewölbedecke, welche aus farbigem Glas bestand. Ein buntes Mosaik, vergleichbar dem einzigartigen Glasfenster „Einzug Christi in Jerusalem“ der Kathedrale Chartres im französischen Departement Eure-et-Loire.

Das Licht erlosch und die Musik, die Johannes keinem Stil eindeutig zuordnen konnte, verstummte. Die Stille machte ihm Angst. Noch immer stand er in der Mitte, fühlte sich wie auf einer Bühne, dann wie in einem vierdimensionalen Kinosaal. Da sprang das erste Tor auf, er erschrak und schwamm in einer Bilderflut: Ein Globus, ...

 

... der nach Osten schwenkt: Panzer, Soldaten, der rote Stern. Leonid Breschnew, der Hindukusch, Kabul, die Mudschaheddin, Babrak Karmal – der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979.

Dann der aufgebahrte Kroate J. Broz Tito, im Mai 1980. Der jugoslawische Vielvölkerstaat beginnt zu bröckeln.

Fünf bunte Ringe, olympischer Sommer in Moskau. Die dick-dumme Schlagzeile „die Spiele werden politisch“, 30 Staaten, die ihre Fahnen einrollen und der ersten Olympiade in einem sozialistischen Land fernbleiben, doch die Invasion in Afghanistan rollt weiter.

Das nächste Bild zeigt eine Werft. Gdansk, oder Danzig? Polnische Arbeiter drängen auf die Straße, halten Plakate, Spruchbänder. Lech Walesa als Redner. Im August erkämpfen die Arbeiter das Streikrecht und unabhängige Gewerkschaften. Der Parteichef Edward Gierek stolpert, stürzt, wird überblendet. Auf einmal ein dünner Mao, nein es ist der General Jaruzelski, mit Schweißerbrille. Panzer, Gewehrläufe, Kriegsrecht - Weihnachten anderer Art in Polen. Walesa einsam mit Kerze, das Fenster vergittert. In der Ferne warten die Russen, marschieren auf, greifen aber nicht durch, nicht ein, nicht an.

Wechselnde Jahreszeiten, es ist Herbst 1982, Breschnew im Leichentuch, der ältliche Geheimdienstchef Andropow wird gekrönt; nein, doch nicht, aber erster Mann der Sowjetunion. Hinter ihm warten Konstantin Tschernenko und 1985 Aufbruchstifter Michail Gorbatschow. Gorbi federt mit den Fußspitzen auf und nieder.

Ein Turm schnellt in die Höhe, fällt zusammen, die Bewegungen werden langsamer, jetzt steht er fest. Jena, der rote Uni-Turm, an seinem Fuße Kreuze, Kerzen, Christen. Ein Pfarrer sammelt Schwerter ein, die Gemeinde schmiedet sie zu Pflugscharen. Auffällig eilen unauffällige Herren herbei, pusten die Kerzen aus und sperren alle, mit Kriegsgeschrei, in ein Indianerzelt. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ sächselt eine Stimme aus einem anderen Stück. Wild-Ost und ...

 

... kein Ende. Das nächste benachbarte Flügeltor sprang auf. Eine andere Leinwand, andere Bilddokumente reihen sich zu einem Geschichtsmosaik:

 

Die Landkarte zeigt Irak im Juli 1979, den Sunniten Saddam Hussein als neuen Staatspräsident, wie er mit Säbel und Gewehr Kurden und Schiiten verfolgt, Kommunisten jagt; die Männer der arabischen Welt versammelt, gegen Ägypten und Israel, die einen Ölbaumzweig halten.

Eine verirrte Kugel trifft eine weiße Taube, die stürzt in das Märchenreich des persischen Schah Pahlawil, der vom Westen gestützt, gehätschelt, gefüttert wird. Sein Lätzchen ist blutbeschmiert und der Monarch schwingt unentwegt eine siebenstränige Peitsche über die Köpfe seiner Untertanen, lässt seine Armee auf das iranische Volk schießen, bevor er überstürzt ins Ausland flüchtet.

Ein fliegender Teppich. Auf dem Teheraner Flugplatz landet im Februar 1979, zurück aus dem Pariser Exil, der Schiitenführer Khomeni und vollstreckt das islamische Gottesgericht an Generälen und Opposition, es hagelt Steine auf Ungläubige, Ehebrecher, Homosexuelle.

Fundamentalisten stürmen im November 1979 die USA-Botschaft und halten 53 Geiseln fest, der Schah lacht an sicherem Ort. Erst später im Januar 1981 erlöst Reagans Amtseinführung die Botschaftsangehörigen, noch müssen sie 444 Tage ängstlich ausharren.

Sechs Menschen rennen, wollen sich retten, dringen im Mai 1980 in das peruanische Botschaftsgebäude in Havanna. Ein Dreigestirn, Christus, Cäsar und Chrustschow, ermahnt Fidel Castro, dass Verheißungen allein nicht glücklich machen, satt schon lange nicht. Der fängt an zu zittern, die Erde beginnt zu beben.

Im Weißen Haus erlässt Jimmy Carter die geheime Direktive PD 59, der zufolge die USA einen erfolgreichen Atomkriegs führen können muss.

Die Kamera schwenkt über den Golf von Mexiko, zoomt über den Stillen Ozean auf das Küstengebirge hin zur Kaskadenkette im nordwestlichsten US-Bundesstaat Washington zwischen Seattle und Portland. Eine Riesenexplosion, der Mount St. Helens spuckt am 18. Mai 1980 Feuer und Asche 20 km hoch und sprengt ein Siebtel der 2948 m in die Luft. Im Tal rennen Menschen um ihr Leben. Bäume werden kilometerweit geschleudert, die Flutwelle des Bergsees türmt sich auf... Der Vulkan St. Helens erschüttert mit der 500fachen Kraft der Hiroshima-Bombe den gesamten Bundesstaat, es qualmt, die Erde raucht, spuckt, vernichtet.

Aus dem Feuernebel starten im Juni 1981 israelische Bomber, fliegen über das irakische Bagdad zum Kernforschungszentrum Tamuz. Bomben krachen, zerstören die Anlage; Sätze in englisch, russisch, französisch, spanisch, türkisch, japanisch. In allen Sprachen verurteilen Nachrichtensprecher den Terrorakt.

Erneut sind ozeanische Weiten zu sehen. 36 britische Kriegsschiffe steuern im April 1982 auf die südatlantischen Falkland-Inseln zu, schlagen die argentinischen Truppen und erobern ihre Kronkolonie. Zurück? Als Opfergabe werden 13 Säcke mit 10 Milliarden britischen Pfund ins Meer geschüttet, vom Winde verweht. Premier Margaret Thatcher tanzt ausgelassen mit Elisabeth II., beide in roten Kleidern, während 1000 Soldatenwitwen in schwarz trauern. Die Welt ...

 

... steht Kopf. Eine unsichtbare Macht drehte Joachim um 90 Grad, das dritte Tor öffnete sich, der Film lief weiter mit dem Untertitel Europa:

 

Manneken Piss, das Atomium, Brüssel. Ein Kalender zeigt Dezember 1979, westeuropäische Staatschefs, Generäle, der NATO-Doppelbeschluss: Erst (nach)rüsten, dann verhandeln. Neue Arbeitsplätze entstehen, die Rüstungsindustrie ist wichtig, das Militär ist wichtig. Der Friede ist wichtig.

Soldaten stürmen in Ankara voran, Menschen werden verfolgt, gefoltert, hingerichtet. Ein General grinst, es ist September 1980 und Militärputsch. Die anderen NATO-Mitglieder zucken die Schulter, jetzt schimpft der Ostblock.

Parolen, Satzfetzen, Zeitungsschnipsel.

Eine Krone schimmert in Madrid, eine Handvoll Soldaten probiert im Februar 1981vergeblich den Putsch, nimmt das Parlament als Geisel, der spanische König Juan Carlos I. bekennt sich öffentlich zur Demokratie und bewahrt Ruhe, die Armee ihre Loyalität, hunderttausende Spanier demonstrieren.

In London drängen im Juli 1981 Menschenmassen an abgesperrte Straßen, die Glocken des Big Ben sind zu hören, dann füllen die beiden Türme und die Tambourkuppel der Saint Paul´s Cathedral die Leinwand. Prinz Charles reitet auf einem Fuchs und zieht eine gläserne Hochzeitskutsche, drinnen sitzt eine zwanzigjährige Lady, Diana winkt links, dann rechts, gelbe Zitronenfalter entführen die Kutsche, die Menge wirft Rosen hinterher.

Eine andere Menschenansammlung, eingeblendet als Dreifaltigkeit werden Pastor Heinrich Albertz, der Sozialdemokrat Erhard Eppler, der Schriftsteller Heinrich Böll. Bonn, ein Silvestertag mit Friedensdemos in der Bundesrepublik und ganz Westeuropa gegen die Raketenaufrüstung.

Die Jahreszahl 1982, Brokdorf. Wieder eine Großdemo, der Wilstermarsch im Februar. Hunderttausend Kernkraftgegner treffen sich im Nordwesten Hamburgs.

Herbstblätter, keine Wahlzettel. Im deutschen Bundestag lacht Außenminister Genscher, CDU/CSU und FDP stürzen die sozialliberale Koalition mit einem Misstrauensvotum, Helmut Kohl wird gewählt und beendet die Amtszeit von Kanzler Helmut Schmidt. Wechsel, Wenden, ...

 

... Wild-West. Die Leinwand oder der Monitor, wer weiß, wird schwarz. Die vierte Flügeltür blieb verschlossen. Joachim wartete, wollte losgehen, denn er ahnte, welche Szenen sich hinter der letzten Tür abspielen.

 

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Das Dunkel wich, der Raum drehte sich, füllte sich mit Mobiliar, Haushaltsgegenständen, Musik. Er fand sich in den eigenen vier Wänden wieder, auf dem Klavierhocker sitzend und lauschte dem Lennon-Song. Zehn Jahre, ...

 

Imagine no posessions / I wonder if you can / No need for greed or hunger / A brotherhood of man / Imagine all the people / Sharing all the world ...

 

... zehn Lebensjahre verflüchtigten sich traumgleich und widersetzten sich jeder verlässlichen Ortsbestimmung. Was war wirklich?

Da saßen die Völker, gestrauchelt in den Gräben der polaren Systeme, gelähmt von der Ignoranz der Mächtigen, gefangen in deren gegenseitigen Lügen und Beteuerungen. Joachim hatte genug gesehen. Er war ein Herumgereister, Ausgestoßener. Herrenlos und namenlos. Manchmal gesetzlos.

Die Spiele der Welt der 80er Jahre versammelten sich in seinem Kopf: West gegen Ost, USA gegen Sowjetunion, DDR kontra BRD, Ostberlin und Westberlin, überall Gegensätze. Die Probleme bedrückten, ja ängstigten Millionen weltweit. Viele Vernünftige verlangten nach einer Lösung jenseits der Militärblöcke, sie galten als unvernünftig. Real schien ein tödlicher, alles vernichtender Nuklearkrieg. Ein Werbespruch frohlockt: „Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause.“

Joachim hält sich die Ohren zu. Plötzlich tönen Lennons Songs „Revolution“, „Give peace a chance“ und „Power to the people“. Manche Hoffnungen ...

 

...  gingen verloren hinter eben dieser vierten Tür. Joachim hörte dumpfe Schüsse, stotternde Gewehrsalven, ferne Angstschreie. Das Tor blieb verriegelt, aber neue Bilder schossen in sein angespanntes Bewusstsein. In Weiß gehüllt ...

 

... nähert sich ein Trauerzug und hält unschlüssig an fünf, frisch aufgeworfenen Gräbern. Der sozial gesinnte Erzbischof von El Salvator, Oscar Arnulfo Romero, schwebt als Kreuz über der ersten Gruft. Erschossen im März 1980 von einem Handlanger der Militärjunta. Rechte Terroristen gegen linke Katholiken und Menschenrechtler.

In der zweiten Totenstätte decken goldene Schallplatten einen gläsernen Sarg zu, eine Nickelbrille lugt hervor. Joachim ist elektrisiert und denkt an jenen Dezemberabend vor zehn Jahren.

Die Grabstellen drei und vier werden nicht gebraucht. Der US-Präsident Ronald Reagan winkt ab, er wurde bei einem Attentat im März 1981 schwer verletzt. Der Schuldige, ein Psychopath, sorgt dafür, dass man das Strafrecht, nicht das Waffenrecht verschärft. Reagan lacht und reicht Nummer vier, Papst Johannes Paul II., die Hand, bevor den im Mai 1981 drei Kugeln lebensgefährlich treffen. Lebenslänglich trifft es den islamischen Täter, der findet später zwar nicht den Segen, aber die Gnade des genesenden Oberhauptes der katholischen Kirche.

In der fünften Krypta ruht der ägyptische Staatschef Muhammad As Sadat. Die Militärparade, bei der er im Oktober 1981 in Kairo von Radikalen ermordet wurde, zieht in endlosen Schleifen mit Marschmusik an den fünf Gräbern vorbei. Bewegung ist alles, doch der viel beschworene Friedensprozess im Nahen Osten stockt. Daran werden sich alle gewöhnen.

Gewöhnen? Alle? Niemals, nein! Damals nicht und ...

 

... heute nicht. Joachim hing den Erinnerungen nach. Ihm war, als hörte er die schadenfrohe Stimme seiner Mutter, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Sonnabend, Sonntag, Montag – es wurden drei herrliche Dezembertage voller Überraschungen.

 

Von ihren letzten gemeinsamen Stunden wussten Joachim und Anna noch nichts. Sie kosteten den Tag aus und die Nacht, streiften durch die Innenstadt und spazierten mindestens einmal täglich über den Weihnachtsmarkt. Wanderten von der deftigen Bratenpfanne zu süßen Mandeln, vom Kaffeestand ins Riesenrad, nach dem Glühwein ins Spiegelkabinett, von der Geisterbahn zum Weihnachtsliedersingen.

Besuchten sie den ältesten Weihnachtsmarkt Deutschlands, Dresdens Striezelmarkt. Oder pendelten sie auf der Düsseldorfer Königsallee zwischen den Weihnachtsmärkten Altmarkt und Schadowplatz? Egal.

Zwischendurch ging es nach Hause. Unterwegs besuchten sie eine Fotoausstellung mit großformatigen Schwarz-weiß-Aufnahmen, durchwühlten ihre Haare, dann ein Antiquariat und steckten ihre Nasen in einen Gewürzladen. Joachims Puls raste, die Eindrücke vermischten sich wie in einem Zustand wacher Besinnungslosigkeit. Annas Sucht nach Bildern, Gerüchen und Genüssen jagte sie durch das vorweihnachtliche Zentrum. Alle Genüsse sind heilig – das war Annas Leitspruch. Verrückte Verliebtheit schüttelte sie und trieb beide zwischen Wohnung, Bett, Weihnachtsmarkt, Kneipen, Galerien und Geschäften hin und her.

Sahen sie nicht am Nikolausabend im Großen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses „Der Menschenfeind“ von Hans Magnus Enzensberger nach Moliere? Oder verbrachten sie das Wochenende doch im barocken Dresden? Wurde im Staatlichen Schauspielhaus Becketts „Warten auf Godot“ aufgeführt? Auf der Bühne stand die Zeit still, erfror das besinnungslose Treiben. Im sicheren Abstand kühlen Beobachtens wurden Widersprüche der angespannten Gegenwart fassbar, wenn auch nicht lösbar.

Der Sonntag und Montag verliefen für Anna und Joachim wieder langsamer, beide fanden ihren Rhythmus, ohne an den Abschied zu denken. Den ...

 

... würden sie nie vergessen. Dienstagfrüh, etwas nach Mitternacht, musste Joachim in unbekannte Richtung heimwärts fahren. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, die Verabschiedung nicht bis zur Abfahrt auszudehnen, hatte sich Anna durchgesetzt und ihn zum Hauptbahnhof begleitet. Fröstelnd standen die zwei auf dem Bahnsteig und schlossen sich wärmend in die Arme. Eine kleine Tanne blinkte und irgendwoher ertönte schwach ein „Stille Nacht, heilige Nacht...“. Neben ihnen hatte ein Pärchen auf einer Bank Platz genommen und nervte mit lauter Radiomusik. Punkt Null Uhr folgten die Nachrichten. Widerwillig lauschten sie der Stimme des Sprechers:

 

New York. John Lennon ist tot. Vor einer Stunde, am Montag, dem 8. Dezember, gegen 23 Uhr, wurde der Ex-Beatle John Lennon vor seinem Wohnhaus am Rande des Central Parks erschossen. Der Täter unternahm keinen Fluchtversuche und ist verhaftet. Lennons Frau Yoko Ono steht unter Schock, blieb aber unverletzt.“ Joachim ...

 

You may say I'm a dreamer / but I'm not the only one / I hope some day you'll join us / And the world will live as one .

 

... merkte, wie sich Anna an ihn krallte, ihn schüttelte und am ganzen Körper zitterte.

„Nein, nein, nein“, ihre panischen Schreie hallten durch die Nacht, unwirkliches Gestammele, abartige Flüche. Sie rief Lennons Vornamen oder seinen, hämmerte mit ihren Fäusten auf Joachim ein. „Lass mich, Joan, lass mich," er konnte sie nicht beruhigen. Anna riss sich, als der Zug kam, los und rannte zum Ausgang. Dort drehte sie sich für einen Moment um, wischte mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, winkte ihm kurz zu und entschwand.

Joachim stand hilflos, er rief ihr nach, wollte hinterher und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Seine innere Stimme riet ihm, noch einen Tag zu bleiben. Der fahrbereite Zug aber mahnte zum Einstieg.

„Bitte einsteigen, Türen schließen“, riss ihn der Schaffner aus seinen Gedanken. Joachim bestieg das Abteil, zwar verwirrt, doch er stieg ein. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Nachtlandschaft zuckelte, dann raste sie, von einzelnen Lichtern unterbrochen, an seinem Fenster ...

 

... vorbei. 10 Jahre erhielt er kein Lebenszeichen von Anna. Ein Telefon besaß sie nicht, Briefe kamen zurück. Hatte er sie verloren? Vergessen nicht, das nicht. Wo war sie nur?

Er selbst wohnte irgendwo in Berlin, brauchte – wenn er weiter reisen wollte – irgendeinen Passierschein und verdiente irgendwie seinen Lebensunterhalt. Keiner wusste, dass er an einen völligen Rückzug dachte. Aussteigen, so lange es noch geht.

Joachim fiel nach Annas Verschwinden in einen Dämmerzustand zwischen Depression und Paranoia. Sein Hausarzt verordnete ihm zur Stressvermeidung autogenes Training, anschließend einen Fitnesskurs als Muntermacher, dem folgten Beruhigungspillen, um ihm das nächste Mal Aufputschmittel zu verschreiben. Einige Monate überfiel ihn eine schleichende Ohnmacht.

 

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Gott sei Dank dauerte diese Lebensmüdigkeit nicht ewig an. Joachim erprobte sich erfolgreich als Lebenskünstler und wandelte als politischer Clown zwischen den Welten, narrte mal als Till Eulenspiegel, mal schlüpfte er in die Rolle von Münchhausen. Seine Lebenslust entlud sich in freundlichen Scherzen, so wenn er die Verkäufer auf dem nahen Wochenmarkt mit krummen Gewichten von 111 Gramm Aufschnitt oder ungeraden Stückzahlen verunsicherte und etwa fünf Eier forderte an Stelle des üblichen Sechserpacks. Und er ließ sich Blumen, Gemüse und manche Kleinigkeiten gerne aufschwatzen, wenn die Händler tatsächlich handelten und im Preis herunter gingen. Er schien glücklich.

 

Doch nicht alles konnte man ihm verkaufen. Traf er mit Leuten zusammen, die eigenes Unrecht in geltendes Recht umschrieben, wechselten seine Freundlichkeit und Ironie in bissige Satire. Ob Gut oder Böse, Grenzen oder vermeintliche Notwendigkeiten, Autoritäten oder Volkeswille - er stellte alles in Frage. Er stach in Feindbilder und Vorurteile, ließ Träume und schöne Ideale wie bunte Luftballons platzen.

Die Welt findet im Kopf statt, argumentierte er. Unser Denken bestimmt den Lauf der Dinge, unser Ego. Jeder sucht den eigenen Vorteil ... und muss deshalb mit anderen teilen, im Kleinen wie im Großen. Hinterrücks überschlugen sich Ende der 80er Jahre die Ereignisse und gaben ihm recht. Zufälle ...

 

... eingeschlossen. Joachim, der die letzte Viertelstunde an diesem Dezembertag 1990 unruhig durch seine Wohnung gelaufen war, setzte sich und dachte: „Pustekuchen, ich muss zur Ruhe kommen. Ich werde ruhig, ganz ruhig, ich atme ganz tief durch.“

Jetzt, wo er den samtbezogenen Drehstuhl wieder deutlich erkannte, fügten sich die Puzzle allmählich zu einem Bild. Der kalte Krieg schien vorbei. Es gab keine innerdeutsche Grenze mehr, Ost und West waren vereint, Berlin eine Stadt, die Welt ein Dorf. Das Eis der ungezählten kalten Kriege begann gerade zu schmelzen und die Feuer der bevorstehenden verbrannten noch nicht die alten und die neuen Wünsche.

 

Er aber war verstört. Vor zwei Stunden hatte ihn Anna angerufen. Anna, die anscheinend in Pankow zur Miete wohnte. Ihre Stimme klang unverändert und vertraut, doch seinen Fragen entzog sie sich.

„Nachher, Joan. Könnten wir uns nicht treffen? Auf einem der Weihnachtsmärkte, entweder an der Gedächtniskirche oder Friedrichstraße?“

„Ann“, sein Hals tat weh, „ich weiß nicht, was ... O. k., auf dem Weihnachtsmarkt Friedrichstraße, da steht immer der Leierkastenmann.“

„Danke, Joan. Bis nachher. Ich bin gespannt!“, sie war hörbar erregt, vielleicht ängstlich. Dann legte sie ...

 

... auf. Inzwischen war es Zeit zu gehen. Joachim stand unschlüssig und schaute auf Annas vergilbten Zettel, der seit zehn Jahren an seiner Pinnwand hing:

 

Das Leben ist das, was passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne für etwas ganz anderes zu machen…

John Lennon

 

Autor:  Claude Lebus  (2004) 

 

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Der Beitrag „Nikolaustag“ gehört zu den fünf Siegertexten des 3. Schreibwettbewerbs der Landeshauptstadt Schwerin und des Literaturhefts „Reflexe“ 2004.

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